Das Rollenspiel in den Kinderschuhen
ACHTUNG: Nachfolgender Artikel ist in alter deutscher Rechtschreibung gehalten,
weil der Verfasser die neuen Regeln für sich nicht anerkennt (man muß ja nicht
jeden Schwachsinn mitmachen).
Oliver, der die Dinge auf unserer Homepage koordiniert, hat mich ob meiner
gesetzteren Lebenserfahrung für prädestiniert erachtet, einen Artikel zum
vorgenannten Thema zu verfassen. Finde ich gut.
DSA, das bedeutendste deutsche Rollenspielprodukt, feierte 2004 20-jähriges
Bestehen. Nicht nur DSA feierte, ich auch, nämlich 20 Jahre Rollenspielsucht.
Trotz allmählich eintretender Senilität erinnere ich mich noch ganz gut an
einen entscheidenden Wendepunkt in meinem Leben: es war Herbst 1984, als ich
während meiner Mittagspause durch die Fußgängerzone schlenderte und als
eingefleischter Spielefan in gewohnter Regelmäßigkeit Blicke unter anderem
in die aktuellen Schaufensterauslagen der Spielwarengeschäfte warf.
An besagtem Mittag eines normalen Herbsttages anno 1984 (an den prophezeiten
Jahrtausend-Computercrash dachte man zu dieser Zeit noch nicht im entferntesten),
fesselte eine Spielbox aufgrund Aufmachung und Präsentation im Schaufenster
meine ungeteilte Aufmerksamkeit:
Basisfarbe Schwarz mit überwiegend in Brauntönen gehaltenen, kreisförmig
angeordneten Fantasygestalten, nicht nur beiderlei Geschlechts, sondern
sogar ein Drache und ein eindeutig nicht menschliches, monsterartiges Wesen
unbekannter Spezies. In der Mitte des Kreises: ein dazu kontrastierendes, in
Grauschattierungen gehaltenes, pupillenloses Auge. (Der Herr der Ringe war
zu diesem Zeitpunkt weder so populär wie heute, geschweige denn mittels des
heute bekannten Auges visualisiert.)
Ich konnte weder wegsehen, noch mich von dort wegbewegen. Meine Blicke, meine
Gedanken, ja, meine gesamte Daseinsberechtigung schienen gefesselt zu sein.
Dann der Titel: "Das Schwarze Auge". Am oberen Rand der Box: "Abenteuer-Basis-Spiel".
Die Box nahm großflächig einen geräumigen Teil der Ausstellungsfläche ein und
war mehrfach ausgelegt. Einmal sogar in geöffnetem Zustand mit gut sichtbar
ausgebreitetem Inhalt. Drei Würfel (profane W6-er) in gewohntem Weiß und ein
dunkelblaues Ding, das mutmaßlich ebenfalls zum Würfeln gedacht war, aber
mit einer ganzen Reihe zweistelliger Zahlen ausgestattet. Später erfuhr ich,
daß man so etwas W20 nennt. Einen herkömmlich gewohnten Spielplan suchte ich
vergebens. Stattdessen ein dünnes Softcover-Buch im DIN-A4-Format: "Das Buch
der Regeln oder das Gesetz des Schwarzen Auges" und interessant aussehende
Dokumente der Stärke (heute sagt man dazu Charakterbögen). Irgendwo stand
ein Preisschild. Ich meine, es wies DM 24,90 aus. Piepegal, die Kaufentscheidung war bereits gefallen.
Bis hierher eine lange Schilderung. Wie könnte ich allerdings sonst
plausibel machen, daß mein Leben durch diese Begegnung fortan eine
drastische und entscheidende Wendung erfuhr?
An besagtem Tag konnte ich kaum das Arbeitsende erwarten, um mich endlich
der versprochenen neuartigen Art des Spiels ausgiebig widmen zu können.
Leider mußte ich - quasi als Tribut - die gewohnte nächtliche Ruhe opfern,
denn zu Hause habe ich sodann die ganze Nacht mit dem Schwarzen Auge verbracht,
obwohl es mir immer wieder wie ein Traum vorkam.
Ein phantastisches Spiel, wie mir die Lektüre nach und nach bewies. So
umfangreiche Spielregeln sah ich noch nie. Erschaffung eines Helden und
immer wieder Einsatz des mir bis dahin völlig unbekannten W20. Mit sage
und schreibe fünf Eigenschaften (Mut, Klugheit, Charisma, Geschicklichkeit
und Körperkraft) ließen sich alle denkbaren und undenkbaren Heldentypen auf
einem Charakterbogen umschreiben: vom einfachen Abenteurer über den kampfbetonten
Krieger bis hin zum zauberkundigen Magier. Sogar die Darstellung von Elfen und
Zwergen war problemlos möglich. Alles wurde über diese fünf Eigenschaften geregelt:
Charaktererschaffung, Proben und Magie. Talentsystem und Zauberfertigkeiten
existierten zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ja, ihr lest richtig. Sogar die
vorgestellten zwölf Zauberformeln, die sogenannten magischen Formeln des Schwarzen
Auges, kamen völlig ohne Talente oder Zauberfertigkeiten aus!
Faszination übte die Möglichkeit der Charaktersteigerung auf mich aus: messerscharf
schloß mein Verstand, daß man zunehmend leistungsfähiger wird, je öfter man das
Spiel spielt und seinen Helden zum Einsatz bringt. Und was der nicht alles erleben
konnte! Unglaublich!
Was dem heutigen Rollenspieler als selbstverständlich gilt, stellte sich für mich
in der Folgezeit zunächst als ein deutliches Spielhemmnis heraus: es war gar nicht
so einfach für mich, Mitstreiter für diesen neuen Spieltyp zu akquirieren. Das mag
wohl in nicht unerheblichem Umfang an der Umwelt gelegen haben, in der ich mich
notgedrungen bewegte. Die Mitglieder dieser Umwelt waren eher kühl kalkulierende
Kaufleute, wie ich einer hätte sein sollen und für Fantasy-Abenteuer gar nicht so
zu begeistern, wie ich es auf Anhieb war. Rollenspielläden oder Treffpunkte für
Rollenspieler waren definitiv nicht vorhanden. Irgendwann funktionierte es dann
aber doch. Mittlerweile verfügte ich über einen Fundus an Material: Abenteuer-Basis-Bücher
(unter anderem das legendäre "Im Wirtshaus zum Schwarzen Keiler oder die Schänke des
Schreckens", "Murgol oder im Wald ohne Wiederkehr" usw.), die zweite DSA-Auflage mit
erweiterten Regeln inklusive rudimentärem, schlecht funktionierendem Talentsystem und
ausgeweiteten Magieregeln und Zaubersprüchen, ferner "Der Meister des Schwarzen Auges".
In den ersten Wogen, die rollenspieltechnisch über Deutschland zusammenschlugen, tauchten
dann die ins Deutsche übersetzten, älteren, amerikanischen Mitbewerber zu DSA auf dem
hiesigen Markt auf: D&D und AD&D, jeweils in deutscher Erstauflage nach den Regeln der
ersten amerikanischen originären Editionen vom Schöpfer Gary Gygax. Alles im Fantasy-Genre
angesiedelt. Dann das heute nahezu unbekannte Sternengarde aus der D&D-Redaktion, auf
Science Fiction-Elementen basierend.
Nach diversen Ausflügen und Beutezügen in Welten der Phantasie zwang mich die Wirklichkeit
in ihre Einflußsphäre zurück. Beruf, Karriere, berufsbegleitendes Studium, Familie und Kinder,
um nur die wesentlichen Fakten aufzuzeigen. Wie so oft im Leben galt es, Prioritäten zu setzen.
Man ist eben nicht teilbar. Dennoch möchte ich heute auch diese Zeiten nicht missen. Gleichwohl
ist es nicht vorgesehen, daß diese zum Gegenstand dieses Artikels werden.
Es trat eine zunehmend größer werdende Distanz zum Rollenspiel ein, aber so richtig losgelassen
hat es mich trotzdem nie. Es wurde lediglich ruhiger. Immer wieder beschäftigte ich mich in Form
autodidaktischen Trainings mit dem Rollenspiel, vorzugsweise mit DSA, das mit Aventurien und
dessen Regionen immer größer und epischer wurde. Von DSA tauchte inzwischen die dritte Edition
auf dem Markt auf, D&D und AD&D hatte ich mir in deren zweiten Editionen bereits einverleibt.
Trotzdem, alleine und kaum noch Zeit für Rollenspiel...
Mein damaliges Rollenspiel-Engagement strebte der Not gehorchend zu meinem enormen Leidwesen
gegen Null. Nahezu Herzstillstand. Faktisch klinisch tot.
Die ersten Rollenspiel-Fachzeitschriften und -magazine hatten sich etabliert: Der Aventurische
Bote, Drache (eine D&D-orientierte Zeitschrift, mittlerweile eingestellt), das D&D-Magazin
(zunächst vorübergehend eingestellt, dann nach kurzer Wiederbelebung endgültiges Aus) und
schließlich die legendenumrankten Wunderwelten (leider auch eingestellt). Gerade letzterer
entnahm ich nach der geschilderten jahrelangen Pause, daß sich die Rollenspielwelt inzwischen
gigantisch entwickelt hatte, und ich verfügte wieder über freie Kapazitäten! Mittlerweile
konnte man alles spielen: Fantasy sowieso, aber auch SF in allen Varianten, Horror, Vampirismus,
Zeitreise, Weird West, Gothic, Piraten, Apokalypse und und und...
Die Beschreibung von Shadowrun, das dem Cyberpunk des William Gibson entlehnte Rollenspielsystem,
hatte es mir besonders angetan. Nach Lektüre der Regeln in der damaligen Version 2.01 bin ich
dann einfach in den Rollenspielladen gegangen, wo ich das gute Stück erworben hatte und bekundete
Interesse an einer Shadowrun-Runde. Ich bekam sofort Anschluß. Und zwar im berüchtigten Wuppertaler
Torkelnden Einhorn (heute längst nicht mehr existent). Dort erhielt ich 1998 schließlich Kontakt
zu meinen heutigen Mitstreitern. Diese spielten damals Earth Dawn.
Persönlicher Geschmack sollte niemals zum Objekt eines Streits werden. Zu Earth Dawn konnte ich bis
heute trotz meiner rollenspielerischen Weltoffenheit niemals Affinitäten entwickeln. Dennoch blieb
ich am Ball. Mein nekromantisch veranlagter T'Skrang namens Gnarks'T verblieb unserer sich damals
festigenden Gruppe unauslöschlich in Erinnerung.
Mein Rollenspiel-geprägter zeitlicher Abriß nähert sich der Jahrtausendwende und bei Fortführung
unausweichlich der heutigen Zeit. Ich lese obige Zeilen gerade noch einmal durch und bemerke, daß
ich nicht stringent das Thema unter der Überschrift "Das Rollenspiel in den Kinderschuhen" zu jeder
Zeit apostrophiert habe. Aber was soll's. Hier bin ich nicht in der Schule, und ich bin gleichfalls
kein Regelfetischist. Natürlich nutzte ich die Gelegenheit dazu, die Historie des deutschen
Rollenspielgeschehens mehr oder minder dezent in einen persönlichen Erfahrungsbericht umzuwidmen.
Wer einen anderen, z.B. dozentenhaft angehauchten Inhalt erwartet hatte, ist hoffentlich nicht
übermäßig enttäuscht. Mich hat es jedenfalls gefreut, an dieser Stelle die Chance genutzt zu haben,
mein bisheriges Rollenspiel-Leben offen Revue passieren zu lassen. Dennoch sind dies keine Memoiren
eines heute 43-jährigen Rollenspiel-Begeisterten, denn mit Memoiren impliziere ich den Abschluß
einer Episode. Aber hierzu bin ich derzeit weder bereit noch willens.
Den Zwölfen zum Gruße
Thomas Fiedler, im Januar 2005